"Wer sich tiefer in sein Werk versenkt, begreift, daß hier ein schaffender Künstler nach dem Sinne Beethovens am Werke war, dem „die Musik Feuer aus der Seele schlägt“ und der „die Offenbarung der Musik“ hat, der im Siege über kleinliches Menschenleid sich hinaufschwingt zu jener den Sinn des Lebens erfassenden Freiheit und Heiterkeit, durch die er sein Werk aus der Ende individuellen Erlebens zum Künder metaphysischer, ewiger, allgemeinmenschlicher Wahrheiten erhebt."
Fritz Ohrmann zum 60. Geburtstag von Waldemar von Baußnern
Am 29. November dieses Jahres vollendet Professor Waldemar von Baußnern sein 60. Lebensjahr. An diesem Ehrentage wird der Meister, dem erst in den letzten Jahren nach seiner Berufung in den Senat der Akademie ein freundlicheres Geschick beschieden war, zurückblicken auf Jahrzehnte schwerster Arbeit, vieler Enttäuschungen und zähesten Kampfes, in denen er, von der Schwungkraft eines höchsten Idealismus getragen, sich über so manche Erbärmlichkeit der Welt und so mancher Menschen, die seinen Weg kreuzten, erheben mußte; Jahrzehnte, in denen er nur in stillen Stunden, die nach der Berufsarbeit des Tages ihm gehörten, sein künstlerisches Lebenswerk schreiben konnte. Aber es wird ihn, dessen Glaube an das Wahre und Echte in seinem Werk durch nichts erschüttert werden konnte, auch das beglückende Bewußtsein erfüllen, daß sein Glaube nicht vergeblich war, daß trotz allem seine Zeit nun doch anbricht, da seine Werke sich langsam, aber immer mehr und mehr durchsetzen. Sich durchsetzen nur durch ihren inneren Wert!
Der heute auf der Höhe des Lebens und des künstlerischen Schaffens stehende Komponist darf sich dem stolzen Bewußtsein hingeben, daß er in über dreißigjährigem Schaffen seinem nur auf das Höchste gerichteten Willen stets treu geblieben ist, daß er nur vor dem Ewigen in der Kunst sich beugte und froh aller Einzwängungen und Hemmnisse niemals einer Mode, einer herrschenden Richtung oder einer führenden Clique irgendwelche Konzessionen gemacht hat. Unbeirrbar ist er seinen Weg gegangen, auf dem ihm nur der Stern in der eigenen Brust voranleuchtete. Als ein Einsamer schritt er durch unsere laute Zeit, aber gerade in der Einsamkeit wuchs seine Kraft, durch die er sich hinaufarbeitete zu der künstlerischen Vollendung, die wohl auch weiter noch übersehen, aber nicht mehr geleugnet werden kann. Überall, wo eines der Monumentalwerke Baußnerns erklang, war der Eindruck ein unwiderstehlicher, gewaltiger. Ich empfand es jedesmal als die Bestätigung der alten Wahrheit, daß das Volk in seiner Gesamtheit einen untrüglichen Nerv für das Vollendete in der Kunst hat und sich in der Hingabe an ein solches Werk auch durch die Theorien der Fachwelt und ihrer Gefolgschaft nicht beeinflussen läst. (Man beachte dagegen das krampfhafte Getue der Atonalistenpartei, deren Führer troz aller Pressebelehrungen und Volkshochschulen von denen, die nicht Partei sind, eindeutig abgelehnt wird.) Auch der naive Hörer erfaßt intuitiv, daß die Werke Baußnerns nicht von einem mathematisch denkenden Manne errechnet und konstruiert worden sind, daß sie vielmehr einem tiefen Künstlerherzen entquollen sind, jenem geheimnisvollen Urboden, der nach Goethe allein das wahrhaft Große hervorbringen kann. Und wer sich tiefer in sein Werk versenkt, begreift, daß hier ein schaffender Künstler nach dem Sinne Beethovens am Werke war, dem „die Musik Feuer aus der Seele schlägt“ und der „die Offenbarung der Musik“ hat, der im Siege über kleinliches Menschenleid sich hinaufschwingt zu jener den Sinn des Lebens erfassenden Freiheit und Heiterkeit, durch die er sein Werk aus der Ende individuellen Erlebens zum Künder metaphysischer, ewiger, allgemeinmenschlicher Wahrheiten erhebt.
Waldemar von Baußnern baut auf dem breiten und sicheren Fundament des historisch Gewordenen auf. Er sieht nicht in den „durch Tradition auf uns gekommenen Gesetzen“ das Hinderniss „beim Suchen nach dem Weg zu sich und den wesenseigenen Gesetzen persönlicher Kunstentfaltung“, wie dieses von unseren Jüngsten oft verkündigt wird.
"Als wirklich genialer Neuschöpfer neigte sich Baußnern demütig vor den Großmeistern der Musik in der Erkenntnis, dass die jungen Geister nur eine Höhe anbauen, zu der sie nicht den Grund gelegt haben“ (Schumann). Die in jahrhundertlanger Entwicklung gewachsenen, nicht erfundenen Formen, welche die der künstlerischen Tat nachfolgende theoretische Erkenntnis immer erst aus den Werken der groben Wegebereiter der Kunst abstrahierte, sind auch für Baußnern, da in ihnen zeitlose, aus dem tiefsten Wesen der Tonkunst sich herleitende Fundamentalgesetze sich ausprägen, alles andere als dürres Schema. Wie ein Mozart, der oft von sich sagte: „Es gibt nicht leicht einen berühmten Meister in der Musik, den ich nicht fleißig und oft mehrmals studiert hätte“, erarbeitete sich auch Baußnern das Erbgut künstlerische Vergangenheit als Eigenbesitz, mit dem er dann als Gereifter, frei und leicht schaffen konnte. Nicht als ein Epigone ohne Mark und Kraft, der nur das Unwesentliche und Äußerliche der großen Vorbilder sklavisch kopiert, sondern als Berufener, der im Ringen um das Werk der Großmeister einen Jakobskampf („Ich lasse dich nicht, du segnest mich denn“) durchhält und mit diesem Segen gerüstet sein neues Werk schafft, das seine Züge trägt und zugleich seine Zeit widerspiegelt. Innerlich bereichert ist er durch die Welt der Großen geschritten, ohne daß in deren Glut seine Schwingen versengt wären. Er war nie Wagnerianer, nie Brahmsens Gefolgsmann im gewöhnlichen Sinne, neben Richard Strauß, Pfitzner und Reger steht er in unserer Zeit als ein absolut Eigener. Was die Geschichte, die strengste und gerechteste Richterin, einmal über ihn urteilen, was sie als unvergängliches Gut aus seinem reichen Schaffen herausheben wird, wissen wir Zeitgenossen noch nicht. Daß sie ihn aber als einen der prägnantesten Charakterköpfe unserer Zeit ansprechen wird, darf schon heute mit Sicherheit ausgesprochen werden.
Noch eines müssen wir als für Baußnern charakteristisch hervorheben. Er kennt nicht das moderne l'art pour l'art, noch viel weniger das modernere l'art pour l'artiste. Fremd ist ihm der krasse Subjektivismus und Individualismus unserer Neutöner, die ausschließlich für sich Musik machen wollen und den für jede Kunst lebensnotwendigen Kontakt mit der Gemeinschaft der Hörenden und Aufnehmenden verloren und die große soziale Aufgabe der Kunst vergessen haben.
Und das ist auch etwas Großes an diesem Tondichter, das, während seine Individualität sich immer klarer ausprägte, er doch immer aus dem lebendigen Gefühl einer starken Verbundenheit mit der Gesamtheit, mit seinem deutschen Volk wie der Menschheit überhaupt seine Werke formte. In diesem Zusammenhange muß ich der überwältigenden Kundgebung gedenken, die die engere siebenbürgisch-sächsische Heimat vor einigen Monaten Waldemar von baußnern bereitete, als sieben Städte dieses Landes in großen Festkonzerten, die sich über vier Wochen erstreckten, die bedeutendsten Chorkompositionen, Symphonien und Kammermusikwerke zur Aufführung brachten. Ist es nicht bezeichnend, daß für das bedrängte Siebenbürgen diese Festtage nicht nur ein künstlerisches Ereignis, daß sie mehr noch ein wahrhaft nationales Ereignis wurden? Das Siebenbürgisch - Deutsche Tageblatt schrieb damals: „Diese festlichen Wochen, an deren Vorarbeiten Hunderte, ja Tausende von Volksgenossen seit Monaten in allen sächsischen Stadien teilnahmen, werden eine bleibende Bedeutung für unser Volk besitzen, das sich an den Leistungen seines großen Sohnes erheben soll und kann Leben und Kunst verbinden sich in diesen Tagen zu einer untrennbaren Einheit, sich gegenseitig befruchtend und fördernd... In unserer Hingabe an diese großen Kunstereignisse bekennen wir, daß das Leben uns nicht Selbstzweck ist, sondern Wirken im Dienst einer Kulturmission, ohne die unser ganzes Dasein inhaltlos wäre... Das Erhebende und beglückende, unserem Volk mit seiner Kunst und durch dieses Fest in seinem so namlos schweren Kampf um die Selbstbehauptung die Arbeit an seiner nationalen und kulturellen Aufgabe zu erleichtern, wird zum Ereignis. Das ist ein beglückendes Bewußtsein für den Meister und sein Volk, aus dem uns und ihm neue Kräfte erwachsen werden.“ Da ist die ungeheure Bedeutung solcher Kunstwerke, wie sie der kerndeutsche Baußnern und andere ihm wesensverwandte Meister unserem Volke geschenkt haben, berührt. Sie haben in dem Zeitalter der Maschine und der Technik, des Intellektualismus und des Materialismus, in der verflachende Zivilisation ganze Schichten unseres Volkes erfaßt und tiefverwurzelte, alte Kultur bedroht ist, eine Mission für die deutsche Seele zu erfüllen, der die blutlosen Tonkonstruktionen moderner Kunsthäuptlinge nichts zu sagen haben. Freuen wir uns, daß wir in Waldemar von Baußnern einen Meister dieser Art besitzen, dessen künstlerischem Lebenswerk, wie der kurze Lebensabriß noch zeigen wird, zudem die Synthese des musizierfreudigen deutschen Südens, der seine Heimat ist, mit dem ernsteren und kühleren Norden, wo er studierte und strebte, noch eine besonders charakteristische Note gibt.
Waldemar von Baußnern ist ein echtes Kind des Siebenbürgener Landes, dessen kerniges Volk in vielhundertjährigem Kampf mit äußeren Feinden um die Selbstbehauptung als politische Nation und in Überwindung der aus der Unwirtlichkeit des heimatlichen Bodens und den verheerenden Kriegen resultierenden schwierigen wirtschaftlichen Lage, die oft zu verzweifelter Not sich auswuchs, die alte, echt deutsche Kultur bis in die heutige Zeit sich erhalten hat. Bis zum 16. Jahrhundert ist das Geschlecht der Edlen von Baußnern zu verfolgen, das dem Vaterlande viele ausgezeichnete Männer gestellt hat, unter denen besonders die Sachsengrafen Simon und Samuel v. B. und der Landesbischof Bartholomäus v. B. als Führer in schwerer Notzeit im Andenken des Siebenbürgener Volkes weiterleben. Der Vater des Komponisten hatte nicht Musiker werden dürfen. Sein starkes musikalisches Talent vererbte er dem Sohne, dem die norddeutsche Mutter zugleich das beste ihres Wesens mitgab. Der Mutter zu Liebe zog der Vater 1865 nach Berlin, wo Waldemar 1866 geboren wurde. Die kriegerischen Ereignisse trieben die Familie noch im gleichen Jahre nach Ungarn zurück. In Budapest verlebte Waldemar die ersten Kinderjahre, in denen besonders die elementaren Zigeunerklänge dem Kleinen starke und lebendige musikalische Eindrücke vermittelten. Den Vater, der sein Ende herannahen fühlte, zog es nach einigen Jahren mit Gewalt wieder in die alte Siebenbürgener Heimat. Nach seinem Tode in Hermannstadt begann für Mutter und Sohn die Zeit bitterster Sorge, die dem Komponisten bis in die letzten Jahre eine treue Begleiterin geblieben ist. Der Knabe, der im Theresianum in Wien eine Unterkunft hatte finden können, wollte mit aller Gewalt zur Musik. Da opferte die durch keine Pension gesicherte Mutter dem glühenden Wunsche des Kindes ihre sorgenfreie Zukunft und reiste mit ihm nach Berlin zurück. Schwere Jahre folgten, bis in selbstloser Weise Ernst Karstedt, ein Berliner Bürger, der zufällig Zeuge einer überraschenden Improvisation des Knaben wurde, die gesamtem Ausbildungskosten des jungen Waldemar übernahm. Kiel und später Bargiel waren durch sechs Jahre seine Lehrer in der Komposition. Die vollkommene Beherrschung der Form und der Satztechnik war das Pesultat dieser strengen Schule. Aber der Terrorismus des allem Fortschritt mit unversöhnlicher Feindschaft gegenüberstehenden Bargiel, dem Baußnern nur auf Motettenkomposition und palestrinensische Musik festlegen wollte, trieb den jungen Menschen, den es leidenschaftlich zum Orchester und zur Oper drängte, nach Abschluß seiner Ausbildung von Berlin fort. Neue Wanderjahre begannen. Unter 75 Bewerbern erhielt er die Dirigentenstelle des Musikvereins und des Lehrergesangvereins in Mannheim, wo in der Oper und im Konzertsaal fortschrittlich gesinnte Führer regierten und der wagemutige Verleger Haeckel für Hugo Wolf eintrat. Hier fühlte Baußnern frischeren Luftzug, und aus einem Gefühl der Befreiung schuf er sein erstes Bühnenwerk „Dichter und Welt“.
Den drei Mannheimer Jahren folgte die Dresdener Zeit. Hier leitete er den „Bach-Verein“ und den großen Männerchor „Liedertafel“. Die anstrgende Berufsarbeit lähmte nicht die kompositorische Schaffenskraft. In Dresden entstanden die erste und zweite Symphonie (beide im Jahre 1899), eine Reihe großer Kammermusikwerke, außerdem die Lustspieloper „Dürer in Venedig“ und die heitere Heldenoper „Herbort und Hilde“. Zeigt schon die Jugendoper Dichter und Welt “keine wesentlichen Spuren Wagnerschen Einflusses, so ist in diesen neuen Bühnenwerken noch mehr das sinfonische Element, ist starke Polyphonie, sind formal in sich abgeschlossene Sätze das hervorstechende Charakteristikum dieser Partituren. Instinktsicher betrat Baußnern verheißungsvolle neue Wege zur Lösung des modernen Opernproblems, als er (um ein Beispiel zu nennen) im scharfen Gegensatz zur dramatischen Theorie der damals herrschenden Überwagnerianer im Finale des zweiten Aktes der Dürer-Oper das übermiitige Lied der Maler:
„Oh, wie schön ist doch die Jugend,
Die uns täglich mehr entschwebt,
Und wer weiß, was morgen lebt!
Drum ist Frohsinn heute Tugend!“
als eine Folge von Variationen gestaltet, die in loderndem Rhythmus zu einem wilden Bacchanale fortstürmen. In Dresden schuf Baußnern auch noch das Musikdrama „Der Bundschuh“, das in der Zeit der Bauernkriege spielt. Bedeutsam ist in diesem Bühnenwerk die Stellung des Chores, der gewissermaßen als eine Kollektivperson neben den handelnden Einzelpersonen den Ablauf des dramatischen Geschehens entscheidend beeinflußt.
Das Jahr 1903 brachte eine bedeutungsvolle Wende. An einem Tage trafen zwei Berufungen: eine als Dirigent des Wiesbadener Cäcilienvereins, die andere als erster Kompositionslehrer am Kölner Konservatorium bei Baußnern ein. Die Erwägung, daß die erzieherische Arbeit an der Jugend dem Komponisten wertvoller als das Dirigieren sein müßte, gab den Ausschlag. Seit diesem Jahre ist Baußnern ununterbrochen als Lehrer und Erzieher der ihm anvertrauten Musikjünger tätig gewesen. Die fünf Kölner Jahre haben Baußnern nicht viel Glück gebracht. Er mußte in acht Fächern unterrichten. Als man ihm in den letzten anderthalb Jahren wöchentlich bis zu 40 Stunden Unterricht zugemutet hatte, war er dem Zusammenbruch nahe. Im Auftrage der Familie des verstorbenen Peter Cornelius und der Verlagsfirma Breitkopf und Härlel hatte von Baußnern 1903 die Revision des Lebenswerkes dieses Meisters übernommen. Mit Max Hasse revidierte er den „Barbie und den „Cid“; außerdem zeichnete er die neuen maßgebenden Klavierauszüge auf und brachte das Opernfragment „Gunlöd“ zum Abschluß. Für diese letzte verantwortungsvolle Aufgabe standen dem Bearbeiter nur einige unausgeführte Klavierskizzen ohne Polyphonie, die in der Hauptsache nur die akkordlichen Unterlagen der Gesangstimmen andeuteten, zur Verfügung. Auch war nur die Hälfte der Dichtung musikalisch skizziert. Für den dritten Akt fand Baußnern nur die Skizze eines einzigen Liedes, diesen wichtigsten Teil des Werkes mußte er ganz neu komponieren. Wie Baußnern diese Aufgabe gelöst hat, ist oft bewundert worden. Auch diese liebevolle Arbeit an dem Werke eines anderen Meisters ist kennzeichnend für die Wesensart unseres Jubilars. Mit innigster Teilnahme hat er sich in diese Aufgabe versenkt, er nennt sie auch heute noch eines seiner glücklichsten Erlebnisse. Die von ihm geschaffene Cornelius-Partitur liegt immer auf dem Flügel seines Arbeitszimmers. In die äußerlich armselige Kölner Zeit fallen auch die ersten Arbeiten an der gewaltigen dritten Symphonie „Leben“, die in dem lebensbejahenden Hymnus des Goetheschen Ganymed ausklingt.
Weimar, wo Baußnern als Direktor der Großherzoglichen Musikschule die Nachfolgerschaft des verdienstvollen Degner antrat, war eine Erlösung. Ungehemmter floh darum auch wieder sein Schaffensquell. Die dritte Symphonie wurde abgeschlossen. Und hier türmte er in den Jahren 1911 bis 1913 das gewaltige Chorwerk auf, das als „Das Hohe Lied vom Leben und Sterben“ alles ausklingen läßt, was in den 1914 beginnenden Schicksalsjahren das ganze Volk gedanklich und gefühlsmäßig bewegte. Dieses große Werk wurde nicht nur der erste Höhepunkt seines eigenen Schaffens, es stellt darüber hinaus einen weithin sichtbaren Gipfelpunkt der zeitgenössischen Musikliteratur überhaupt dar. Denn hier löst Waldemar v. Baußnern wie nur wenige das Problem des modernen Oratoriums, das zutiefst doch einem religiösen Urboden erwächst, und findet eine neue Form desselben. Unter Verzicht auf tatsächliches Geschehen und handelnde Personen gab er dem Oratorium in der Auswahl aus den schönsten Dichtungen dreier Zeitepochen (klassische, romantische und moderne Poesie) einen rein geistigen Inhalt und macht so sein Werk im Ringen um den Sinn des Lebens und des Todes zu einem künstlerischen Glaubensbekenntnis seiner kosmischen Weltanschauung. Sein Orchester baut er auf streng symphonischer Grundlage auf; selbständig steht es den Solisten und dem Chor gegenüber, die auch wieder durch ihre Einbeziehung in die symphonische Technik niemals ihre wesentliche Bedeutung aufgeben. Ein besonderes Charakteristikum des symphonischen Gefüges sind die reinen Orchestersätze, denen wieder a-cappella-Chöre wie der wundervolle Gesang „Es grüßt Dich wohl ein Augenblick“ gegenüberstehen. Es folgte die vierte Symphonie, die fünfte wird begonnen. Baußnerns größte Kammermusikwerke entstehen: das Streichsextett und das prachtvolle 0ktett für Klavier, drei Violinen, Flöte, Klarinette, Cello und Kontrabaß, das, ganz auf den österreichisch-ungarischen Ton gestimmt, „dem Lande seiner Kindheit“ gewidmet ist.Mit größten Hoffnungen ging Baußnern im jahre 1916 als Direktor des Dr. Hoch‘schen Konservatoriums noch Frankfurt. Damit begannen seine schwersten Jahre, in denen er schließlich einen erbitterten Kampf um seine und seiner Lehrer künstlerische und finanzielle Existenz führen mußte. Über die Mentalitat gewisser einflußreicher Frankfurter Musikkreise und ihre Stellung zum schaffenden und reproduzierenden Künstler wäre schon ein interessantes Kapitel zu schreiben. Es zeugt für die stahlharte Energie und den ungebrochenen Mut des Komponisten, daß er auch in diesen Jahren wirklicher Bedrängnis die Kraft zur Fortführung seiner großen Schaffenspläne nicht verlor. Die ganz aus dem tiefsten Erleben des blutigen Völkerringens geborene fünfte Symphonie „Schnitter Tod“ wurde vollendet, außer der sechsten Symphonie entstanden noch die Kammersymphonie: „Himmlische Idyllen“, der überwältigende 48. Psalm für achtstimmigen Chor, die zweiaktige musikalische Komödie „Satyros“ (nach Goethe), die inhaltlich und formal ganz bedeutenden „Zwei Präludien und Fugen für Klavier“ und viele Kammermusikwerke. 1922 kam die Ernennung Baußnerns zum auswärtigen Mitglied der Berliner Akademie der Künste, 1923 befreite ihn die Berufung als Sekretär der Musiksektion der Akademie und als Kompositionslehrer der Akademie für Kirchen- und Schulmusik endlich aus den mehr als unerquicklichen Frankfurter Verhältnissen. Zum ersten Male konnte der 57jährige Meister, von druckender Tageslast befreit, in Ruhe sich seinem Schaffen widmen. Seitdem entstanden noch das große Chorwerk „Aus unserer Not“ (nach Dichtungen von Klopstock), die symphonische Legende: die himmlische 0rgel“ für Bariton, Orchester und Orgel (Uraufführung unter Knappertsbusch-München), „Hymnische Stunden“ für Streichorchester (Uraufführung Leipziger Gewandhaus), neben vielen Kammermusik- und Chorwerken die siebente Symphonie‚ die erst vor einigen Wochen beschlossen wurde.
Es geht nicht an, das riesige Lebenswerk dieses seltenen Mannes in einem kurzen Artikel erschöpfend zu würdigen. Einige Hinweise auf die größten Werke Baußnerns sollen darum nur versuchen, das Bild des Meisters in einigen wesentlichen Zügen noch zu verdeutlichen. Keines dieser großen Werke steht für sich allein, als Glieder einer langen Entwicklungsreihe, getragen von den gleichen groben, ewigen Ideen, gehören sie zueinander. Auf den Blättern des bisherigen Gesamtwerkes stehen überall die uralten Fragen nach dem letzten Sinn alles Seins, alles Werdens und Vergehens, des Lebens und des Todes; ebenso durchzieht das andere Problem: „Der Mensch, der Höhenmensch, der Künstler gegenüber der Welt“ als weitere Leitgedanke sein ganzes bisheriges Schaffen. Und jetzt ein für Baußnern Wesentliches: Fassen ihn diese Gedanken in ihrer ganzen Wucht, ist seine Schaffensstunde gekommen, dann versinkt das Lied des Todes vor ihm, da trübt das Ungemach des Lebens seinen Blick nicht mehr. Keine kleinliche Verbitterung klingt mehr in seiner Seele nach, wenn sie auf die Suche nach letzten, tiefsten Zusammenhängen geht. Da horscht er mit der Menschheit in die Ewigkeit hinein, bittet mit ihn um Antwort, fleht, ruft mit ihr, reißt sich mit ihr aus schmerzender Erdgebundenheit los, stürmt mit ihr hinauf, so hoch Menschen steigen können, auf jene Geisteshöhen, wo an den Grenzen der Menschheit, den Lebenden unerreichbar, ein Wunderland die ewige Heimat des ruhelosen Menschenherzens wie durch Wolkenschleier unbestimmbar ferne leuchtet. Alle Menschheitsnot schlägt dann ihre Krallen auch in sein Herz — aber auch er darf allen beseligenden Frieden auskosten, wenn auf die in die grauenvolle Unendlichkeit hinausgerufenen, hinausgeschleuderten Fragen überirdische, unfaßbare Stimmen leise antworten, wenn Sphärenharmonien dem in Andacht versinkenden Menschen das Lied des ewigen Friedens singen, in dem göttliche Harmonie alle grausame Lebensdissonanz auflöst. Und was in solcher Weihestunde das Herz des Künstlers erschütterte, das will offenbar werden. Da sind Klänge geboren worden, die Musik werden, die hinausdringen wollen zu den Menschen, damit, was von Herzen kam, auch wieder zu Herzen gehen möge (Beethoven). Auch über diesem Lebenswerk leuchtet das alte Wort „Per aspera ad astra!“ siegend auf. Es weiß nichts von müdem, resignierendem Pessimismus, es spricht von einem starken, leidüberwindenden, unerschütterlichen Optimismus, der in freudiger, jauchzender Lebensbejahung einer ewigen Bestimmung sich bewußt ist. Soll ich noch mehr sagen? Soll ich das noch nachweisen an der Symphonie „Jugend“, die das Motto (aus dem Schwager Kronos von Goethe) trägt: „Weit, hoch, herrlich der Blick rings in's Leben hinein!“? An der dritten Symphonie „Leben“, die nach furchtbarsten Entladungen dithyrambisch in Goethes „Ganymed“ ausklingt? An der aus den Erschütterungen des Krieges hervorgegangenen, dem Gedächtnis der gefallenen Helden gewidmeten fünften Symphonie, in der neben den eigenen symphonischen Themen das alte Lied „Es ist ein Schnitter, heißt der Tod“ in allen vier Sätzen das Fundament der thematischen Entwicklung ist? An dem gewaltigen „Hohen Lied vom Leben und Sterben“? An der sechsten Symphonie „Psalm der Liebe“, die den im Hohen Lied gefeierten Gedanken der Liebe nochmals aufgreift, in der, wenn die ergreifenden Worte der Dichterin Elizabeth Barret-Browning, die ein schweres Schicksal lebte, das Letzte, das Unaussprechliche nicht mehr sagen können, die ausdrucksgewaltigere Musik sich zum Hymnus der großen, bis zur Selbstaufopferung bereiten Frauenliebe ausbreitet? An der siebenten, der „Ungrischen“ Symphonie, in deren Schlußsatz (Variationen über das aus der Zeit des dreißigjährigen Krieges stammende Volkslied von den „ungrischen Husaren“) wieder die unverwüstliche Lebensfreude des tatenfrohen Meisters elementar durchbricht? Die weltweiten Gedanken recken diese Werke zu Monumentalbauten, sie heischen die weitgezogensten Umrisse, die größten Formen, die das Übermaß seelischen Gehaltes doch oft noch zu sprengen scheint.
Auf das weitere über 100 Werke umfassende Schaffen Baußnerns einzugehen, die einzelnen Werke wie auch die verschiedenen Gebiete seines Schaffens in ihrer Bedeutung gegeneinander abzuwägen, verbietet der mir zur Verfügung stehende Raum. Auch seine Kammermusik, seine Klavier- und Orgelkompositionen, seine Chorwerke und Lieder sind alle mit staunenswertem Können gestaltet, auch sie atmen den Geist der groben Werke, zeigen das charakteristische Bild dieser geschlossenen Persönlichkeit. Anfügen will ich noch, daß einige Werke, besonders Kammermusik der letzten Jahre, auch der Hausmusik durchaus erreichbar sind, wie auch Baußnerns Arbeit für die singende Jugend (dreistimmige Volkslieder, Volkslieder mit Instrumentalbegleitung) noch nachgetragen werden soll. Daß W. v. Baußnern erfolgreichste Arbeit für das deutsche Volkslied geleistet hat, ehe Fritz Jöde auf den Plan trat, ist wenig bekannt und muß darum besonders gesagt werden. Das „Zweite Jenaer Liederblatt“ mit mehrstimmigen Liedern, zu denen sich Flöte, Geige, Klarinette, Fagott bzw. Cello gesellen, ist ein ganz entzückendes Werkchen.
Nun die letzte Frage: Warum kennen erst so wenige Menschen die Werke dieses Meisters? Die Antwort ist einfach. Man hat wie schon so oft auch diesen gradlinigen, keiner Tagesparole gehorsamen, echt deutschen Meister übergangen. Bülow setzte sich s. Zt. für den aufstrebenden Künstler ein, hier und da wurde, zum Teil auch an bedeutender Stelle, eines seiner Werke aufgeführt, aber er blieb im Dunkeln. Ich war Zeuge von dem gewaltigen Eindruck des Hohen Liedes gelegentlich seiner Uraufführung in Frankfurt, die Paul Bekker in seiner Frankfurter Zeitung einfach totschwieg. Von den sieben Symphonien ist noch nicht eine gedruckt! Unsere finanzkräftigsten Verleger drucken, man möchte sagen unbesehen, die anschpruchsvollsten Werke atonalistischer Jünglinge, die kaum der Hochschule entwachsen sind. Warum bleiben diese Werke ungedrucht? Nur Leuckardt wagte die Herausgabe des Hohen Liedes. Dankbar ist anzuerkennen, daß in den letzten Jahren die Verleger André (Offenbach), Breitkopf und Härtel (Leipzig), Elwert (Marburg), Forberg (Leipzig), Heinrichshofen (Magdeburg), Ries und Erler (Berlin), Schott (Mainz), Simrock (Berlin) und Vieweg (Berlin) sich für den Meister einsetzten und einige bedeutungsvolle Werke herausbrachten. Warum gehen unsere Dirigenten, die Kammermusikgesellschaften, die Virtuosen diesen Werken aus dem Wege? Man wende nicht ein, Baußnerns Musik stelle zu hohe Anforderungen an den Hörer, sie braucht nur beim Hörer ein aufnahmefreudiges Herz. Und werden auch viele die durch die Wahl der für die großen Werke herangezogenen Dichterworte sich offenbarende kosmische, sich mit dem Goetheschen Pantheismus berührende Weltanschauung des Tondichters für sich ablehnen — das aus diesen Werken hervorbrechende Lied vom Kampf und vom Endsieg des nicht nur auf das Irdische und Zeitliche beschränkten, sondern zu dem Ewigen berufenen Menschen geht alle an. Darum gerade haben die Aufführungen der groben Werke Baußnerns die Herzen der Hörer immer noch bis zum tiefsten aufgewühlt. Und Ihr Herren Kammermusiker! Seid versichert, dass die feingezeichnete, blutvolle, frisch pulsierende, rhythmisch beschwingte und melodienfreudige Musik Baußnerns, in der in gleicher Weise deutsche Größe, deutsche Innigkeit, deutscher Humor und deutsche Ausgelassenheit zum Ausdruck kommen, Dutzende von gequälten Werken einiger Modegrößen aufwiegt!
Man hat die Bedeutung des Komponisten Baußnern durch seine Berufung zum Mitglied der Akademie anerkannt. Ein Meister seiner Potenz hat das Recht, gehört und zur Diskussion gestellt zu werden. Von den großen Werken erklang bis jetzt in Berlin nur das Hohe Lied, die Aufführung desselben war eine künstlerische Großtat Georg Schumanns und seiner Singakademie. Sie vertieft in mir noch den Eindruck der Frankfurter Uraufführung. Unvergeßlich ist mir in der Erinnerung dieses Abends in der Philharmonie das Bild des Meisters, als er sichtlich tief ergriffen den höchsten Aufschwung seines Hohen Liedes vom Leben und Sterben in der Singakridemie-Aufführung erlebte, als der Naturchoral, getragen von den gewaltigen Orgelklängen, umrauscht von dem Riesenorchester, unisono in den Trompeten und Posaunen mit alles niederringender Gewalt ertönte. Wie vieles vergangener Jahre wurde in dem Augenblicke wohl aufgewogen! Baußnerns Werke werden in den kommenden Wintermonaten noch oft von sich reden machen. In Weimar bereitet Dr. Prätorius ein viertägiges Baußnern-Fest vor; in München werden Prof. von Hausegger und Generalmusikdirektor Knappertsbusch, in Dresden Generalmusikdirektor Fritz Busch für Baußnerns Symphonien eintreten; Nürnberg, Heidelberg, Halle, Königsberg, Wien, Budapest rüsten zur Feier des 60. Geburtstages. Und Berlin? Noch liegt keinerlei Nachricht vor,daß hier eines der Monumentalwerke Baußnerns erklingen wird. Da ist die Frage berechtigt: Wird sich Berlin seines Mitbürgers erinnern, oder wird man auch in diesem Jahre, um diese machtvollen Werke erleben zu können, wieder nach auswärts reisen müssen?